Ich kann nicht schlafen.
Er legte die Stirn an den Spiegel, wälzte sie hin und her.
Ich. kann. nicht. schlafen.
Schlaf-fen. Schl-aaa-fen.
Schlaf!
Schlaf!
Schlaf!
Schlaffe Lider.
Er konnte nicht schlafen. Er hatte versucht, in seinem Bett zu schlafen, aber die Dunkelheit war zu groß, das Zimmer zu weit gewesen und unter den Decken hatte er sich mit all seiner Angst, der Unruhe allein wie ein Kapitän auf dem tiefen, schwarzen Meer gefühlt.
Er hatte sich in die Hose gemacht. Jetzt stand er vor dem Badezimmerspiegel, ein tränenverschmiertes Gesicht, aber schlafen konnte er noch immer nicht.
Im Wohnungsflur stand jemand. Zuerst hatte er sie gar nicht bemerkt. Die kleine Frau wartete geduldig, als wollte sie sich ein Bad einlassen oder die Hände waschen, doch obgleich das Zimmer groß genug für sie beide war, blieb sie stehen, wo sie war. Sie hatte nicht vor, das Badezimmer zu betreten. An ihren Schläfen hingen Schweißperlen und ihre Finger zitternd über den Hüften. Sie hatte versucht, in ihrem Bett zu schlafen, aber die Dunkelheit war zu groß, das Zimmer zu weit gewesen und unter den Decken hatte sie sich mit all ihrer Angst, der Unruhe allein wie ein Kapitän auf dem tiefen, schwarzen Meer gefühlt. Mutter.
Er sah herüber und sie wartete und er verließ das Bad, alles zur gleichen Zeit. Sie standen da und betrachteten einander über den Flur hinweg. Sie deutete auf das Schlafzimmer. Eine stille, unverbindliche Geste. Einmal. Nur einmal. Aber sie war für ihn bestimmt. Für niemanden sonst. Dann verschwand sie in der Küche. Es ist ein schönes Gefühl, jemanden zu haben, der auf einen wartet. Und er wusste, was zu tun war. Das Schlafzimmer liegt nicht fern.
Das Schlafzimmer liegt nicht fern. Der Gedanke liegt nicht fern. Zwischen Tapeten und Türen, ein Stück Weg, eine Straße. Ich liebe dich. Ich reiße sie herunter, hänge sie ab und wieder auf: Tapeten, Türen. Die Wohnungen sind andere. Aber die Gedanken die gleichen. Gefühle, Ängste, Söhne, Mütter. Tapeten, Türen. Unendlich. Monet weint im Badezimmer. Archimedes wandert über den Wohnungsflur. Martin Luther King wartet im Bett auf seine Mutter. Er richtet sich auf und erzählt von seinem Traum.
Ich sehe Männer vor mir. Ich sehe Mütter vor mir. Jesus und Maria vor allen Bergen, den Hügeln und Wiesen. Ein Feld aus Samt und Maria deutet auf das Schlafzimmer. Es ist eine stille, unverbindliche Geste, aber sie ist nur für ihn bestimmt. Es ist ein Lied von bedingungsloser, reger Liebe, die alle aufgezwungenen, männlichen Barrikaden weit übersteigt, sodass sogar die Wölfe zurück in die Gruben zu ihren Müttern krabbeln. Eine Liebe, die etwas Angestammtes, Lebendiges bedeutet, das alle Zeiten überwindet. Von Mutter zu Kind. Von Mutter zu Kind. Von Kind zu Mutter. Und zurück. So führt eine stille Hoffnung, eine warme Zuneigung die verwundeten Soldaten zurück in die Häuser, wo ihnen eine unverbindliche Geste, Tapeten, Türen und ein Schlafzimmer versprochen warten. Sie legen den bandagierten Kopf im Schoß der Mutter ab, rasten, weinen. Und mit einem Mal sind Soldaten wie Brüder durch eine gemeinsame Liebe weltweit miteinander verbunden. Und das ist wie Heimkehr. Also bittet Jesus seine Mutter ein letztes Mal vor allen Bergen, den Hügeln und Wiesen die selbe Liebe zu genießen, die Wölfe und Soldaten vereint. Ein letztes Mal weniger als der Messias sein. Ein letztes Mal zuhause in Betlehem sein. Ein letztes Mal geboren werden. Am Ende sind es du und ich. Und das Schlafzimmer liegt nicht fern.
Er schritt über den Flur, hörte das Rauschen von metallisch schmeckendem Leitungswasser in der Küche. Das Schlafzimmer liegt nicht fern. Der Gedanke liegt nicht fern. Türen und Tapeten. Badezimmer und Schlafzimmer. Du und ich. Ein Stück Weg, eine Straße. Verbunden wie Mutter und Sohn. Verbunden wie Rumpf und Glieder. Ein Hasenrumpf. Eine unverbindliche Geste.
Es gibt Hasen. Es gibt Hasen, die Geschichten erzählen. Unter dem Flieder, im Brennesselgraben, dem Rumpf der Welt, dem einzigen, dem schönsten. Kommt her. Hört zu. Sie erzählen Geschichten, schon wuchern die jungen Brennnesseln über die verholzten Stiele der alten. Ich gebe zu, es ist flach, sehr flach, aber das macht den Himmel hoch und weit. Es ist viel Platz für Wölfe und Soldaten, Tapeten und Türen. Der Himmel ist hoch und weit, die Gesten unverbindlich, das Schlafzimmer nicht fern. Und sie flüstern, flüstern stille Versprechen. „Wenn du eine Nelke bist, werde ich ein wunderschöner Garten sein, in dem du blühen kannst“, sagen die Zibben, „und wenn der Wind dich holt, so werde ich eine Schwalbe sein und dich bis ans Ende der Welt begleiten. Wenn du ein Kapitän auf tiefer, schwarzer See bist, möchte ich der Port werden, in dem du zuhause bist. Ich möchte ein Feld aus Samt zu deinen Füßen sein und dich lieben und beschützen. Wenn du du bist, soll ich ich sein.“
Oh, geboren und gebärt werden. Mein Anfang. Mein Ende. Eine Schlange, die ihren Schweif kaut. Ein Kreis, der sich schließt. Jetzt verstehe ich, wieso Soldaten und Hasen in die selben kauernden Positionen fallen, wenn sie dem Sterben überlassen sind, die auch Embryos in sterilen Sälen voll blinkender Apparate Sekunden nach ihrer Geburt einnehmen. Sie lechzen nach Liebe, eine warme Hand, die sich um sie schließt. Wie am Anfang, so am Ende. Der Himmel ist hoch und weit, meine Liebe unveränderlich. Ich gebe zu, es ist flach, sehr flach, aber das macht die Hasen flink und wendig. Im Mondschein jagen sie einander von Badezimmer zu Schlafzimmer. Und sie flüstern, flüstern stille Gedanken: Das Schlafzimmer liegt nicht fern.
Er stand vor der Schlafzimmertür. Umgeben von Tapeten. Umgeben von stillen Gedanken. Das Schlafzimmer liegt nicht fern. Einen halben Hasenrücken entfernt, eine ausgestreckte Soldatenhand. Dann trat er ein.
Die ganze Welt wartet. Wartet auf unverbindliche Gesten im Schlafzimmer der Gezeiten. Wartet auf die Rettung aus dem Badezimmer.
Ich möchte mich erinnern, woher ich komme. Ich möchte mich erinnern, ein Band aus Liebe weiterzuknüpfen. Ein Band aus Brenneseln und Wolfsfell. Ein Band über alle Generationen. Sodass meine Kinder in das selbe Schlafzimmer kehren, das ich seit meiner Kindheit bewandere. Ich bin ein Wanderer. Ich bin ein Suchender. Doch vor allem, was mich im Kern mit Hasen gleichstellt. Mit Monet und Soldaten. Mit Archimedes und Wölfen. Ich bin ein Kind. Eine endlose Rolle Tapete. Ein ewiges Schlafzimmer.
Das Schlafzimmer liegt nicht fern. Es liegt vor uns. Vor dir und mir.
Ob das Bettlaken aus unverbindlichen Gesten gesponnen ist? Er lag im Bett und wartete. Einen Moment später tauchte sie im Türrahmen auf. Er rollte sich zur Seite, machte Platz und verschwand unter der Decke.
Monet und Hasen.
Er zog sich bis auf die Unterhose aus und legte sich neben sie. Sie zog die Decke über sie beide, schob sich nah an ihn heran und schmiegte sich an seinen Rücken.
Archmides und Wölfe.
Sie drückte die warme Oberseite ihrer Schenkel an die Rückseite seiner kalten Beine und hielt seine Füße zwischen ihren, bis sie nicht mehr so eisig waren.
Du und ich.
Es gibt Mütter. Es gibt Mütter, die Geschichten erzählen. Es ist eine Ballade von Malern und schwarzen Wölfen, aber sie ist nur für ihn bestimmt. Für niemanden sonst. Es ist ein Lied von Soldaten und weißen Hasen, aber sie schickt ihn in stille Träume.
Hier, zwischen Tapeten und Türen.
Zwischen Badezimmer und Schlafzimmer.
Zwischen dir und mir.
Es ist eine schöne Geschichte. Ich kann sie dir erzählen.