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Constantin Tartarone (5kl) gewinnt den heurigen Literaturwettbewerb
Linz - 15.05.2023
v.l.n.r. Prof. Luger, Direktor Eder, Constantin, Carolin und Raphael, Prof. Oppolzer, Prof. Wolf
© Borg Linz
Auch heuer gab es am Borg Linz wieder einen Literaturwettbewerb. Unter dem Motto "Die Nachricht" wurden aus einer großen Anzahl an Einsendungen die drei Sieger ermittelt.
Die Juror*innen Prof. Karina Luger, Prof. Christopher Oppolzer und Prof. Yury Wolf hatten einiges zu lesen, bevor sie sich auf die drei Stockerlplätze einigen konnten. Am meisten beeindruckt haben Texte aus der 5kl und der 7la und so konnten sich Carolin Pichler (5kl) über den 3. und Raphael Elmecker (7la) über den 2.Platz freuen. Der Sieg ging an eine Geschichte aus der Feder von Constantin Tartarone aus der 5kl, die ihr rechts im Kasten lesen könnt.

Wir gratulieren ganz herzlich!
Die Nachricht (Siegertext von Constantin Tartarone)
Sie saß auf dem Felsen. In ihrer Hand hielt sie das Stück Papier. Es war Nachmittag und in ihrer Hand das Stück Papier. Was hielt sie noch gleich auf dem Felsen sitzend? Ach ja, das Papier. Ein Stück Papier. Schön gefaltet, schön anzusehen, wie es Papier nun eben an sich hat. Nicht mehr. Nicht weniger. Aber nein, das konnte es nicht sein. Das Stück Papier allein konnte sie nicht in das erdrückende Schweigen geschickt haben, das wie ein Gewicht auf ihren Schultern lastete. Was war es dann? Ach ja! Die Nachricht.

Sie saß auf dem Felsen und überflog das Gewirr der Wörter mit ihren Augen. Es war er, der ihn verfasst hatte, den Brief, das war kenntlich. Nur er. Nur er. „Ich vermisse dich.“ Das Gekrakel eines Soldaten, dessen Hände nicht zum Schreiben gedacht waren. Dessen Hände keine Spur von Feingefühl oder Schönschrift aufwiesen. Die Hände eines Mannes, rau, ganz rau. Hände, die an den Griff von Waffen gewöhnt waren. Hände, die schlugen und packten, die in Blut badeten. Hände, die Granaten warfen, damit sie, sie und die Kinder, zuhause auf Felsen sitzen und Briefe lesen konnten. Hände, die bei dem Versuch, Zärtlichkeit einzufangen, sie zu porträtieren und eins mit der Ewigkeit durch nicht zu vergessende Schönheit zu machen, versagten. Die sich von den Händen eines Van Gogh oder Klimt eingeschüchtert und neben ihnen wie wertlose Klumpen Fleisch fühlten. Die sich vielleicht danach sehnten, in einem nächsten Leben statt Revolvern Pinseln und Federn zwischen den Fingern zu führen. Sie saß auf dem Felsen und weinte.

Sie saß auf dem Felsen und schluchzte. Ihre Arme, der Bauch, die Brust, das sommerliche Kleid, ihr damenhaftes Dekolleté. Dinge, die Aufschluss über ihr Alter gaben. Merkmale, die sie zu einer jungen Frau erklärten. An ihrem Gang  allein ließ sich nichts davon ablesen, was sie mental alt und gebrechlich machte. Ebenso nicht an ihren Füßen, den Nägeln, den Lippen. Es waren die Augen, die sie verrieten. Ja, die Augen. Die Augen, in denen sich all das Leid widerspiegelte. Die wie eine Pforte zur Seele fungierten. Eine Türe mit einem großen Buntglasfenster, durch das sich der Kern der Existenz beobachten ließ, ohne am Türknauf drehen und die Türe öffnen zu müssen. Doch sag mir, du, der du deine Ohren ganz meiner Geschichte widmest: Würdest du die Tür auch dann noch, freudig von Kopf bis Fuß, öffnen, wenn du bereits Sekunden zuvor durch das Glas gesehen hättest, dass es sich bei dem schwarzen Irrlicht, das du anfangs für eine dunkle Illusion, ein Hexenwerk, gehalten hast, eigentlich um die Seele handelt? Das Ding, das für dein Empfinden zu ausgelaugt und kraftlos schien, um das sprechende Herz darzustellen. Das so dunkel strahlte, dass es einfach keine Seele sein konnte und es doch war – ganz zu deinem Erstaunen. Sag mir, würdest du die Türe verriegeln, das Fenster bedecken? Innerlich war sie nicht mehr als eine alte Frau, vom Leben dahingerafft. Sie ließ die Finger über die Ecken des Briefes wandern und dabei wurde ihr klar, dass es diese Nachricht und all die anderen Nachrichten zuvor waren, die sie dreißig, vierzig, gar sechzig Jahre älter werden ließen. Es waren die Briefe und ihr Lesen. Es waren die Botschaften, die ihr wie ein Strick um den Hals fielen, an ihr zogen und zerrten, ihr alles Leben aus dem Körper rissen. Es waren die Nachrichten, die ihr Falten ins Gesicht legten. Ihre Haare von einem satten Braun in ein schwaches Grau wandelten. Ihre Knochen nachgeben ließen und ihr einen Gehstock anhängten. Sie zu einer alten, uralten Frau machten. Merkmale, die sie zu einer alten Frau erklärten.

Die vermeintliche Greisin saß auf dem Felsen. In ihrer Hand hielt sie die Nachricht. Es war Nachmittag und in ihrer Hand die Nachricht. Alles wäre ihr lieber gewesen. Alles, alles, solange es nicht eine weitere Nachricht, ein weiterer Brief war. Eine weitere Information, die sie nur dann erhalten konnte, wenn sie den Mut aufbrachte, den Brief zu öffnen. Die sie nur dann erhalten konnte, wenn sie ihre Angst besiegte, die Verkündung seines Todes könnte den Inhalt dieses Briefes darstellen. Sie war es leid. Das schier endlose Hoffen und Beten, der nächste Brief möge ebenfalls seiner Hand entspringen. So wie der davor und all die anderen davor. So wie es immer gewesen war. Genauso wie es immer bleiben sollte.

Nein, so sollte es nicht bleiben. Genauso sollte es nicht bleiben. Es musste ein Ende nehmen. Natürlich wollte sie nicht, dass es so blieb. Natürlich nicht. Ganz selbstverständlich nicht. Nein, es musste aufhören. Aufhören, wie ein Vorgesetzter den Befehl gibt zu stoppen. Ganz abrupt. Plötzlich sogar. Wenn es nicht stoppte, dann würde sie stoppen. Ihr Herz. Ihre Gliedmaßen. Ihr Kopf. Sie brauchte vielmehr von ihm als die Nachrichten. Bedeutsameres. Dinge, die wichtiger waren. Seine Stimme. Seine Ohren. Seine Muttermale und Unreinheiten im Gesicht. Vielmehr als Briefe. Vielmehr als Tinte, mehr als Papier. Bitte lieber Gott, sofern es Dich gibt, sofern Du es bist, der den Tag aus dem Ei der Nacht schlüpfen lässt, der aus Wasser Wein macht und durch mein Herz Blut pumpt, das so fein ist, ich könnte glauben, es wäre nicht mehr als frischer Sternenstaub, entstanden durch die Kollision tausender Himmelskörper. Soweit es Dich gibt, so weine nicht um mich, denn ich bin stark genug um dies Päckchen Schwermut mit mir zu schleppen. Verzage nicht, reiß Dir nicht die Haare aus, wenn Du vor Qualen schreist und in deinem Zorn die Nachkömmlinge Adam und Evas bestrafen willst – sie leiden schon genug. Vertraue auf mich, ich werde Dich lieben, Dich ehren und Deine Füße küssen, bis Du von Emotionen überkommen bist, so menschlich wie Deine Kinder. Ich werde Dein Hafen sein, Dein Lamm und Dir treu bleiben. Gib mir nur das, was mein Herz am meisten begehrt: ihn. Deine Göttlichkeit soll nicht mehr hervorbringen und ich werde den Menschen zeigen, warum Märtyrer für ihren Glauben sterben und wieso man sich dazu entschieden hat, Dir den Namen JHWH zu geben, wohl wissend, dass keine irdischen Betitelungen unter uns Menschen ausreichen, um Deine Güte und Liebe passend zu beschreiben. Ich würde für Dich am Kreuz sterben, so sehr könnte ich Dich lieben.

Sie ertappte sich erneut dabei, ihre Zeit mit sinnlosen Vorstellungen zu verschwenden. Vorstellungen, an den Brief und wie er seine Form veränderte. Wie er erst ganz klein und unbeweglich dalag, doch sich mit einem Mal rührte, wie besessen, wie lebendig. Sich mit einem Mal streckte, dehnte. Ja, er ging in die Länge, in die Breite. In für Briefe untypische Ausmaße, immer größer und größer. Mit einem Mal stand er auf zwei Beinen, die anfangs noch aus Papier waren, aber auf einmal aus Fleisch, mit Narben gekennzeichnet und einem Menschenkörper angehörig. Ja, und Hände bekam er auch. Hände, die zuvor noch Silben waren. Und Finger, die eigentlich zu der Anrede gehörende Nomen und Satzzeichen waren. Seine Knöchel bestanden aus einstigen Buchstaben und Überbleibsel von falsch Geschriebenem. Und seine Zunge setzte sich aus der ehemaligen Unterschrift zusammen, dick und klobig. Ja, es wäre ihr so viel lieber gewesen. Es wäre ihr alles lieber gewesen und vor allem er. Er wäre ihr am liebsten gewesen. Tastbar, befühlbar, nah. Kein Brief, sondern ein Mensch.

Sie saß auf dem Felsen und hoffte. Ihre jungen, alten Finger strichen über die Seiten. In Kriegszeiten war Bindung ungeeignet. Das hatten ihr die Nachrichten mit einer nicht in Worte fassbaren Gewalt gezeigt. Sie hatten ihr gezeigt, dass nicht der Tod das war, was sie am meisten fürchtete. Sie hatten ihr gezeigt, dass es Zuneigung war. Er hatte sie fühlen lassen. Er hatte ihr Schmerz gebracht. Schmerz, den sie nicht wollte. Schmerz, nach dem sie nicht gefragt hatte. Schmerz durch seine Nachrichten. Wenn sie sie las, fürchtete sie alles. Sie fürchtete Verlust. Sie fürchtete sogar den Tod.

Sie saß auf dem Felsen. In ihrer Hand hielt sie die Nachricht. Es war Nachmittag und in ihrer Hand die Nachricht. Was hielt sie noch gleich auf dem Felsen sitzend? Ach ja, der Schmerz. Ein schlimmer Schmerz. Sie saß auf dem Felsen und litt. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Sag mir, mein Geliebter, warum du mich mit deinen Nachrichten peinigst? Mache mir klar, warum ich nachts im Bett liege, und auf deine Berührung warte, als würdest du bei mir sein. Lasse mich wissen, wieso du dich erst letzte Nacht im Schlaf meiner Haare angenommen hast.

Sie saß auf dem Felsen und litt.
Borg Chronik-Team

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Die Nachricht (Siegertext von Constantin Tartarone)
Sie saß auf dem Felsen. In ihrer Hand hielt sie das Stück Papier. Es war Nachmittag und in ihrer Hand das Stück Papier. Was hielt sie noch gleich auf dem Felsen sitzend? Ach ja, das Papier. Ein Stück Papier. Schön gefaltet, schön anzusehen, wie es Papier nun eben an sich hat. Nicht mehr. Nicht weniger. Aber nein, das konnte es nicht sein. Das Stück Papier allein konnte sie nicht in das erdrückende Schweigen geschickt haben, das wie ein Gewicht auf ihren Schultern lastete. Was war es dann? Ach ja! Die Nachricht.

Sie saß auf dem Felsen und überflog das Gewirr der Wörter mit ihren Augen. Es war er, der ihn verfasst hatte, den Brief, das war kenntlich. Nur er. Nur er. „Ich vermisse dich.“ Das Gekrakel eines Soldaten, dessen Hände nicht zum Schreiben gedacht waren. Dessen Hände keine Spur von Feingefühl oder Schönschrift aufwiesen. Die Hände eines Mannes, rau, ganz rau. Hände, die an den Griff von Waffen gewöhnt waren. Hände, die schlugen und packten, die in Blut badeten. Hände, die Granaten warfen, damit sie, sie und die Kinder, zuhause auf Felsen sitzen und Briefe lesen konnten. Hände, die bei dem Versuch, Zärtlichkeit einzufangen, sie zu porträtieren und eins mit der Ewigkeit durch nicht zu vergessende Schönheit zu machen, versagten. Die sich von den Händen eines Van Gogh oder Klimt eingeschüchtert und neben ihnen wie wertlose Klumpen Fleisch fühlten. Die sich vielleicht danach sehnten, in einem nächsten Leben statt Revolvern Pinseln und Federn zwischen den Fingern zu führen. Sie saß auf dem Felsen und weinte.

Sie saß auf dem Felsen und schluchzte. Ihre Arme, der Bauch, die Brust, das sommerliche Kleid, ihr damenhaftes Dekolleté. Dinge, die Aufschluss über ihr Alter gaben. Merkmale, die sie zu einer jungen Frau erklärten. An ihrem Gang  allein ließ sich nichts davon ablesen, was sie mental alt und gebrechlich machte. Ebenso nicht an ihren Füßen, den Nägeln, den Lippen. Es waren die Augen, die sie verrieten. Ja, die Augen. Die Augen, in denen sich all das Leid widerspiegelte. Die wie eine Pforte zur Seele fungierten. Eine Türe mit einem großen Buntglasfenster, durch das sich der Kern der Existenz beobachten ließ, ohne am Türknauf drehen und die Türe öffnen zu müssen. Doch sag mir, du, der du deine Ohren ganz meiner Geschichte widmest: Würdest du die Tür auch dann noch, freudig von Kopf bis Fuß, öffnen, wenn du bereits Sekunden zuvor durch das Glas gesehen hättest, dass es sich bei dem schwarzen Irrlicht, das du anfangs für eine dunkle Illusion, ein Hexenwerk, gehalten hast, eigentlich um die Seele handelt? Das Ding, das für dein Empfinden zu ausgelaugt und kraftlos schien, um das sprechende Herz darzustellen. Das so dunkel strahlte, dass es einfach keine Seele sein konnte und es doch war – ganz zu deinem Erstaunen. Sag mir, würdest du die Türe verriegeln, das Fenster bedecken? Innerlich war sie nicht mehr als eine alte Frau, vom Leben dahingerafft. Sie ließ die Finger über die Ecken des Briefes wandern und dabei wurde ihr klar, dass es diese Nachricht und all die anderen Nachrichten zuvor waren, die sie dreißig, vierzig, gar sechzig Jahre älter werden ließen. Es waren die Briefe und ihr Lesen. Es waren die Botschaften, die ihr wie ein Strick um den Hals fielen, an ihr zogen und zerrten, ihr alles Leben aus dem Körper rissen. Es waren die Nachrichten, die ihr Falten ins Gesicht legten. Ihre Haare von einem satten Braun in ein schwaches Grau wandelten. Ihre Knochen nachgeben ließen und ihr einen Gehstock anhängten. Sie zu einer alten, uralten Frau machten. Merkmale, die sie zu einer alten Frau erklärten.

Die vermeintliche Greisin saß auf dem Felsen. In ihrer Hand hielt sie die Nachricht. Es war Nachmittag und in ihrer Hand die Nachricht. Alles wäre ihr lieber gewesen. Alles, alles, solange es nicht eine weitere Nachricht, ein weiterer Brief war. Eine weitere Information, die sie nur dann erhalten konnte, wenn sie den Mut aufbrachte, den Brief zu öffnen. Die sie nur dann erhalten konnte, wenn sie ihre Angst besiegte, die Verkündung seines Todes könnte den Inhalt dieses Briefes darstellen. Sie war es leid. Das schier endlose Hoffen und Beten, der nächste Brief möge ebenfalls seiner Hand entspringen. So wie der davor und all die anderen davor. So wie es immer gewesen war. Genauso wie es immer bleiben sollte.

Nein, so sollte es nicht bleiben. Genauso sollte es nicht bleiben. Es musste ein Ende nehmen. Natürlich wollte sie nicht, dass es so blieb. Natürlich nicht. Ganz selbstverständlich nicht. Nein, es musste aufhören. Aufhören, wie ein Vorgesetzter den Befehl gibt zu stoppen. Ganz abrupt. Plötzlich sogar. Wenn es nicht stoppte, dann würde sie stoppen. Ihr Herz. Ihre Gliedmaßen. Ihr Kopf. Sie brauchte vielmehr von ihm als die Nachrichten. Bedeutsameres. Dinge, die wichtiger waren. Seine Stimme. Seine Ohren. Seine Muttermale und Unreinheiten im Gesicht. Vielmehr als Briefe. Vielmehr als Tinte, mehr als Papier. Bitte lieber Gott, sofern es Dich gibt, sofern Du es bist, der den Tag aus dem Ei der Nacht schlüpfen lässt, der aus Wasser Wein macht und durch mein Herz Blut pumpt, das so fein ist, ich könnte glauben, es wäre nicht mehr als frischer Sternenstaub, entstanden durch die Kollision tausender Himmelskörper. Soweit es Dich gibt, so weine nicht um mich, denn ich bin stark genug um dies Päckchen Schwermut mit mir zu schleppen. Verzage nicht, reiß Dir nicht die Haare aus, wenn Du vor Qualen schreist und in deinem Zorn die Nachkömmlinge Adam und Evas bestrafen willst – sie leiden schon genug. Vertraue auf mich, ich werde Dich lieben, Dich ehren und Deine Füße küssen, bis Du von Emotionen überkommen bist, so menschlich wie Deine Kinder. Ich werde Dein Hafen sein, Dein Lamm und Dir treu bleiben. Gib mir nur das, was mein Herz am meisten begehrt: ihn. Deine Göttlichkeit soll nicht mehr hervorbringen und ich werde den Menschen zeigen, warum Märtyrer für ihren Glauben sterben und wieso man sich dazu entschieden hat, Dir den Namen JHWH zu geben, wohl wissend, dass keine irdischen Betitelungen unter uns Menschen ausreichen, um Deine Güte und Liebe passend zu beschreiben. Ich würde für Dich am Kreuz sterben, so sehr könnte ich Dich lieben.

Sie ertappte sich erneut dabei, ihre Zeit mit sinnlosen Vorstellungen zu verschwenden. Vorstellungen, an den Brief und wie er seine Form veränderte. Wie er erst ganz klein und unbeweglich dalag, doch sich mit einem Mal rührte, wie besessen, wie lebendig. Sich mit einem Mal streckte, dehnte. Ja, er ging in die Länge, in die Breite. In für Briefe untypische Ausmaße, immer größer und größer. Mit einem Mal stand er auf zwei Beinen, die anfangs noch aus Papier waren, aber auf einmal aus Fleisch, mit Narben gekennzeichnet und einem Menschenkörper angehörig. Ja, und Hände bekam er auch. Hände, die zuvor noch Silben waren. Und Finger, die eigentlich zu der Anrede gehörende Nomen und Satzzeichen waren. Seine Knöchel bestanden aus einstigen Buchstaben und Überbleibsel von falsch Geschriebenem. Und seine Zunge setzte sich aus der ehemaligen Unterschrift zusammen, dick und klobig. Ja, es wäre ihr so viel lieber gewesen. Es wäre ihr alles lieber gewesen und vor allem er. Er wäre ihr am liebsten gewesen. Tastbar, befühlbar, nah. Kein Brief, sondern ein Mensch.

Sie saß auf dem Felsen und hoffte. Ihre jungen, alten Finger strichen über die Seiten. In Kriegszeiten war Bindung ungeeignet. Das hatten ihr die Nachrichten mit einer nicht in Worte fassbaren Gewalt gezeigt. Sie hatten ihr gezeigt, dass nicht der Tod das war, was sie am meisten fürchtete. Sie hatten ihr gezeigt, dass es Zuneigung war. Er hatte sie fühlen lassen. Er hatte ihr Schmerz gebracht. Schmerz, den sie nicht wollte. Schmerz, nach dem sie nicht gefragt hatte. Schmerz durch seine Nachrichten. Wenn sie sie las, fürchtete sie alles. Sie fürchtete Verlust. Sie fürchtete sogar den Tod.

Sie saß auf dem Felsen. In ihrer Hand hielt sie die Nachricht. Es war Nachmittag und in ihrer Hand die Nachricht. Was hielt sie noch gleich auf dem Felsen sitzend? Ach ja, der Schmerz. Ein schlimmer Schmerz. Sie saß auf dem Felsen und litt. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Sag mir, mein Geliebter, warum du mich mit deinen Nachrichten peinigst? Mache mir klar, warum ich nachts im Bett liege, und auf deine Berührung warte, als würdest du bei mir sein. Lasse mich wissen, wieso du dich erst letzte Nacht im Schlaf meiner Haare angenommen hast.

Sie saß auf dem Felsen und litt.
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