Schnuppe seufzte. So oft wurde ihr schon von ihrer Entstehungsgeschichte und auch von ihren zukünftigen Aufgaben erzählt. Anfangs hatte sie noch begeistert zugehört, doch nun kannte sie die Geschichten in- und auswendig. Sie fing an sie immer weniger zu mögen.
Denn sie mochte es nicht, dass ihre Zukunft nicht in den Sternen geschrieben stand, sondern scheinbar in Stein gemeißelt war. Ihr Licht flackerte und dimmte sich, die Angst vor der Zukunft schon fast greifbar. "Wieso fühle ich mich nicht schwerelos, wenn mich doch ein ganzer Kosmos umgibt?", fragte sich Schnuppe. Erst neulich begann Schnuppe´s Mutter wieder über den blauen Planeten zu reden und wie die Sternschnuppen diesen friedlicher machten. Dies taten sie, indem sie die Wünsche der Menschen erfüllten. Bald war das auch ihre Aufgabe. Aber Schnuppe wollte nicht die Träume eines anderen verwirklichen, wenn sie dafür ihre eigenen aufgeben musste. Sie wollte das ganze Universum erkunden und nicht nur ständig Geschichten über den blauen Planeten hören. Doch sie hatte bisher nicht den Mut dazu diese Gedanken auszusprechen.
Enthusiastisch wendete sich ihre Mutter an sie: "Bald wirst auch du ein treuer Diener der Erde sein. Ich kann es nicht fassen, meine kleine Schnuppe erlebt morgen ihren Tag des Schweifes!" Jener Tag, an dem Schnuppe zu einer Sternschnuppe heranreifen würde. Nun war es so weit und abgesehen von ihr schien sich jeder zu freuen. Eine Schnuppe nach der anderen wurde mit Goldstaub versehen, mit dem sie die Wünsche der Menschen erfüllten.
Der Schnuppenoberhaupt, der den Goldstaub verlieh, staunte nicht schlecht als er Schnuppe
sah. "Warum so ein gedimmtes Licht zur frühen Morgenstund´?", fragte er. Daraufhin fing Schnuppe wieder an hell zu leuchten. Dennoch flackerte ihr Licht hin und wieder- so nervös war sie. "Kaum zu glauben. Du, die Schnuppe des Lux." , sagte er spöttisch. Lux, so lautete der Spitzname ihres Vaters. Er wurde so genannt, weil niemand so viel Licht in der Menschenwelt hinterlassen hatte wie er. Aus diesem Grund hatten alle so hohe Erwartungen an Schnuppe und genau aus diesem Grund wäre sie jetzt am liebsten von einem schwarzen Loch verschluckt worden. Sie wusste von Anfang an, dass sie nicht zu einer Sternschnuppe werden wollte. Deshalb fasste sie noch gerade rechtzeitig den Mut, um zurückzuweichen, als der Schnuppenoberhaupt sie mit Goldstaub versehen wollte. "Ich will keine Sternschnuppe sein!", sagte Schnuppe nun bestimmt. Denn als Sternschnuppe verpflichtete sie sich den Menschen und Schnuppe wollte sich niemanden verpflichten. Sie wollte frei sein und ihre eigenen Wünsche erfüllen. Um sie herum wurde es still. Schockierte Blicke trafen sie. Auch ihre Eltern sahen sie enttäuscht an. Das machte Schnuppe zwar traurig, doch sie wusste, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste.
Firdos Jangulbaewa, 7n
Der Schrei
Eine Geschichte über Mut & Selbstliebe
Ein kalter Luftzug strömt durch das leicht geöffnete Fenster meines Zimmers, und ich schaudere kurz. Ich lege den Stift zur Seite und entschließe mich dazu, aufzustehen, meine Finger umfassen den kalten Griff, als ich das Fenster schließe. Besser. Ich fühle einen kleinen Funken Erleichterung, bevor wieder die gewohnte Gleichgültigkeit einsetzt, als ich mich wieder auf den grauen Stoff meines Schreibtischstuhls setze. Seufzend starre ich auf das aufgeschlagene Buch vor mir, versuche, irgendwie die richtigen Worte zu finden, um durch das Schreiben Ordnung in meine Gedanken bringen zu können, wie ich es schon so oft gemacht hatte, doch: Nichts. Nicht eine einzige Idee bekomme ich zu fassen, kein Wunder, denn ich weiß nicht einmal genau, was ich fühle. Der Stift, der schon so oft mein Retter gewesen ist, der mich alle Dinge sagen lassen kann, die ich denke, ohne sie zu sagen, liegt noch immer neben dem Papier, scharf gespitzt, bereit zum Einsatz. Wie gerne ich ihn jetzt in die Hand nehmen würde, seine Spitze auf das Papier setzen und schreiben würde, so lange, bis ich endlich fühlen könnte, wie die Last meiner Gefühle von meinen Schultern abfällt. Nur, welche Gefühle genau? Sie zu beschreiben, kann doch nicht so schwer sein, ich muss es doch irgendwie schaffen können. Reiß dich doch zusammen, ermahne ich mich, es kann doch nicht so schwer sein, so schwer sein, so schwer
Langsam schleicht sich Frustration in meine Gedanken ein und ich lasse meinen Kopf, begleitet von einem lauten Seufzer, in meine Hände sinken. Hm, immerhin weiß ich jetzt zumindest einen Teil von dem, was ich fühle. Angestrengt denke ich nach, doch es ist, als würde ich außer dem langsam nahenden Frust überhaupt nichts spüren, als hätten mich alle meine Emotionen verlassen, als wäre in meinem Kopf bloß erdrückende Stille, ähnlich erdrückend wie die Stille in diesem Raum. Hätte ich doch bloß den Mut dazu, meine Gedanken statt diesem leblosen Stück Papier auch einmal jemand echtem anzuvertrauen, ganz offen und ehrlich, ohne Angst zu haben. Angst. Bei diesem Stichwort muss ich kurz grinsen. Oh ja, ich habe Angst. Genau deshalb sitze ich auch hier, in diesem stillen Raum, kein einziges Wort verlässt meine Lippen, und doch könnte ich so viel erzählen. Mein Blick wandert von meiner silbern glänzenden Schreibtischlampe, die grelles Licht abgibt, über den Stift zu meiner Rechten zu den leeren weißen Seiten auf dem kahlen weißen Schreibtisch. Ich fühle mich nicht wohl hier, und doch muss ich hier sein - es ist auch mitten in der Nacht, wo sollte ich auch anders hinkönnen. Erneut starre ich auf das Papier, dieses Mal spüre ich die Enttäuschung umso mehr. Eigentlich ist es erbärmlich. Plötzlich blitzt eine Erinnerung in meinen Gedanken auf, ein Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Es sieht mich verächtlich grinsend an: "Du bist so erbärmlich". Dann ein weiteres Gesicht: "Was ist falsch mit dir?" und noch eines: "Lass uns doch endlich in Ruhe! Keiner mag dich." Je mehr ich versuche, diese Gedanken, diese Gesichter zu verdrängen, desto größer wird ihre Anzahl und desto lauter werden ihre Stimmen, sie schreien schon beinahe, füllen meinen Kopf mit Selbsthass. Bald schon höre ich meine eigene Stimme unter all den Rufen, unter all den Beleidigungen, und auch ohne zu schreien sticht sie deutlich hervor: Sie haben Recht. Ich bin erbärmlich. Ein Nichts. Ich sollte einfach
Halt, warte. Das ist nicht wahr. Beruhig dich, sage ich zu mir selbst, es gibt keinen Grund, so zu denken. Ich versuche, kurz durchzuatmen, mich an alles Positive zu erinnern, doch da sind die Stimmen wieder, mit ihrem schrecklichen Gerede. Plötzlich fröstle ich wieder, obwohl das Fenster schon lange wieder geschlossen ist und die Heizung vor meinen Beinen unbeschwert Wärme ausstrahlt. Ich fühle mich eingeengt, die Wände scheinen schrecklich nahe, der blanke weiße Schreibtisch wirkt nur noch abstoßend, das ursprünglich helle Licht der Schreibtischlampe scheint immer schwächer zu werden und mich langsam, aber sicher in Dunkelheit zu hüllen. Verzweifelt versuche ich, die Stimmen auf lautlos zu stellen, ihr Schreien zu ignorieren, sie aus meinen Gedanken zu verdrängen. Doch es ist sinnlos. Sie werden lauter und lauter, meine Versuche, mich zu wehren, gehen in ihrem Geschrei unter. In diesem einen Moment bricht meine Fassade endgültig zusammen, ich bin ihnen schutzlos ausgeliefert. Ich fühle einen stechenden Schmerz, er trifft mich mitten ins Herz und dann in meinen Magen. "Erbärmlich", "Nervig", "Jämmerlich" nennen sie mich, nenne ich mich. Ich merke schon gar nicht mehr, wie die Tränen über mein Gesicht laufen, wie sie auf das Papier tropfen und die Seiten langsam durchnässen. Zitternd hole ich Luft, versuche noch ein letztes Mal, mich zu beruhigen, nur um im nächsten Moment von einer noch größeren Gefühlswelle getroffen zu werden, die mich erneut verzweifelt nach Luft ringen lässt. Widerstand ist zwecklos, das Chaos in meinem Kopf nimmt kein Ende, denn sobald ich versuche, dagegen vorzugehen, reißt es mich wieder zu Boden, immer und immer wieder, als würde ich in einem Tsunami an Selbstmitleid ertrinken. Erbärmlich. Jämmerlich. Meine Wut gegen mich selbst wächst und wächst, ich will nur noch schreien, doch ich kann nicht. Ich will alles einfach herauslassen, meine Gedanken so lange in die Welt hinausschreien, bis sie sich endlich verflüchtigt haben. Ich will nicht mehr hier sitzen, ängstlich und voller Selbsthass, und meine
Gefühle in ein verdammtes Buch schreiben, anstatt sie so auszusprechen, wie sie sind, klar und deutlich und laut, so unendlich laut - und vor allem will ich diese Stimmen loswerden, ich will, dass sie mich in Ruhe lassen. Mit geballten Fäusten schlage ich auf den Tisch, der Stift rollt zu Boden, doch ich hebe ihn nicht auf. Ich konzentriere mich bloß auf den Kampf gegen die Gesichter. Sie haben mich schon oft genug verletzt. Ich habe genug davon. Es muss ein Ende haben. Jetzt. Und auf einen Schlag hören sie auf zu schreien. Die Stille kehrt zurück, doch diesmal hat sie etwas Beruhigendes an sich. Mein Kopf dröhnt noch, doch das Chaos meiner Gedanken scheint sich endlich entspannt zu haben. Mit dem Ärmel meines Pullovers wische ich mir die letzten Tränen aus dem Gesicht, realisiere langsam, dass es nun zu Ende ist. Ich atme erleichtert durch, plötzlich scheint mir alles, worüber ich mir gerade noch so sehr den Kopf zerbrochen habe, völlig unbedeutend, denn ich weiß: Ich bin stärker, lauter, größer als diese Stimmen. Ich bin viel mehr, als sie mir weismachen wollen. Mein Zimmer scheint wieder viel heller, viel freundlicher. Mein Blick wandert zur Türe, und ich weiß, was noch zu tun ist. Ich stehe auf, doch bevor ich die Türklinke nach unten drücke, drehe ich mich noch einmal um, hebe den Stift vom Boden auf und schreibe rasch etwas in das leere Buch hinein. Dann verlasse ich das Zimmer. Auf dem Gang streift mein Blick einen Spiegel an der Wand, ein blasses Gesicht mit verweinten Augen lächelt mir entgegen. Ohne eine Jacke zu nehmen, trete ich aus der Wohnung und laufe das Treppenhaus hinunter, bis mich schließlich die eiskalte Nachtluft umgibt. Erst als ich sie einatme, fällt mir auf, wie stickig es in meinem Zimmer eigentlich war. Ich hole tief Luft, spüre, wie die Kälte in meine Lungen strömt. In der nächsten Sekunde durchdringt ein lauter Schrei die Nacht und hallt von den Wänden der umliegenden Häuser wider. Es sind die drei Worte, die in dem aufgeschlagenen Buch auf meinem Schreibtisch zu lesen sind, in Großbuchstaben und über die ganze Seite verteilt:
I C H L I E B E M I C H.
Antoni Kowalski
"Seit wann ist er hier?"
"Er ist vor ein paar Tagen angekommen, Mam."
"Hat er irgendetwas gesagt seitdem?"
"Nein Mam, gar nichts. Er liegt jeden Tag stundenlang völlig reglos da und starrt auf die Decke."
Die Krankenschwester öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte in das Zimmer. Einen Moment lang sah es so aus als wollte sie hineingehen, doch dann seufzte sie nur und schloss leise die Tür. "Es hat keinen Sinn hier noch länger herumzustehen, Marta. Geh hinunter zum Zimmer 12 und wechsle Pawels Verband. Aber wirf den Alten nicht weg, sondern bring ihn in die Wäscherei."
Das Mädchen nickte und eilte den schwach beleuchteten Flur davon. Die Krankenschwester zögerte noch einen Moment, doch dann ging sie ebenfalls.
Antoni Kowalski hielt den Atem an. Als die letzten Schritte verklungen waren, atmete er erleichtert aus. Er blinzelte und ließ seine Augen durch den Raum wandern. Sie brannten höllisch vom stundenlangen Starren und es dauerte eine Weile bis sich sein Blick geklärt hatte. Das Zimmer war nicht gerade schön, aber es war sehr sauber. Die weiße Tapete, die bereits an einigen Stellen abbröckelte, und das graue Metallbett wirkten abweisend und kühl. Doch im Vergleich zu der Unterkunft in der er die letzten Monate verbracht hatte, strahlte dieses Zimmer puren Luxus aus. Antoni fühlte sich unheimlich erschöpft und konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten und doch wagte er es nicht sie zu schließen. Er würde es nicht ertragen all diese Bilder noch einmal zu sehen, all diese Momente noch einmal zu durchleben. Ist es nicht eigenartig, dass die Erinnerungen, die wir am meisten versuchen zu verdrängen, uns am klarsten bleiben? Wie sollten die Wunden jemals verheilen, die diese schreckliche Zeit hinterlassen hatte? Antoni blinzelte. Er schaffte es nicht länger gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Sein Blick verschwamm, sein Atem wurde gleichmäßiger und er glitt in einen unruhigen Schlaf.
Er war sofort wieder da. Dieser Traum, der ihn jede Nacht quälte. Es war wie ein Film in seinem Kopf, der nur darauf gewartet hatte abgespielt zu werden und ihn in die Zeit zurückholte, die er am liebsten für immer vergessen würde.
Antoni atmete eisige Winterluft ein. Die Kälte stach in seinen Lungen doch er musste weiterlaufen, er musste den Bahnhof erreichen bevor es zu spät war. Die Nazis hatten heute Nacht sein Haus heimgesucht und seine Frau verschleppt. Antoni hatte gewusst, dass sie ihn und Anastazja eines Tages ausfindig machen würden, denn fast jeder in Witoslaw wusste, dass sie Jüdin war. Für ein paar Laib Brot oder einen Sack Kartoffeln verrieten die Leute sogar ihre engsten Freunde und Familienmitglieder, so hoch war die Not in Polen. Antoni schmerzte seine Brust so sehr, dass er dachte er müsste sich übergeben, doch er rannte weiter. Da sah er plötzlich einen gleißenden Lichtstrahl durch die Dunkelheit blitzen und ein gellender Pfiff schallte durch die Nacht. Stimmen riefen verzweifelt durcheinander, Hunde bellten und man konnte Kinder weinen hören. Als Antoni näherkam, konnte er die schemenhaften Umrisse einer riesigen Menschenmasse erkennen, die auf dem hell beleuchteten Bahnhofsplatz stand. Eine schwarz aufragende Dampflock hüllte die verängstigte Menge in dichten Nebel wodurch der Anblick umso beunruhigender wurde. Antoni blieb stehen und blickte völlig außer Atem auf dieses Schauspiel hinab. Panik stieg in ihm hoch. Wie, um alles in der Welt, sollte er Anastazja in diesem Getümmel ausfindig machen? Und selbst wenn er sie finden würde, was dann? SS-Männer hatten die Menge umzingelt und hielten sie mit ihren knurrenden Hunden und gelegentlichen Schlägen und Fußtritten eng beisammen. Antoni schlich noch näher heran und versteckte sich im Schatten des Bahnhofgebäudes. Er stand mit dem Rücken flach an die Wand gepresst und schloss für einen Moment die Augen. Eigentlich glaubte er nicht an einen Gott. Als kleiner Junge hatte er, wie alle anderen, jeden Sonntag den Gottesdienst besucht. Doch die Gebete die er dort in der Kirche ausgesprochen hatte wurden nie erhört. Antoni öffnete seine Augen wieder, blickte hoch in den sternenübersäten Himmel und er flüsterte kaum hörbar: "Wenn es dich wirklich gibt, hilf mir!" Er hielt den Atem an, aber nichts geschah. Da gellte erneut ein schriller Pfiff durch die Nacht und die Türen der Wagons wurden krachend und quietschend geöffnet. Die Menge schrie entsetzt auf, als die Nazis begannen die ersten Leute der Reihe nach in den Zug zu zwängen. Im grellen Licht der Laternen erkannte Antoni einige bekannte Gesichter, wie zum Beispiel den Bäcker von dem er jeden Montag frisches Brot geholt hatte, oder die schrullige alte Dame, die zwei Häuser weiter in seiner Straße wohnte. Von Anastazja jedoch, war keine Spur. Die Menschenmenge wurde immer kleiner. Jetzt standen vielleicht noch zwanzig oder dreißig Leute auf dem Platz. Antonie sank auf die Knie. Tränen liefen über sein Gesicht. Wie war das alles nur möglich? Wie konnte der Mensch so viel Grausamkeit in sich tragen? All diese Soldaten wussten wohin der Zug die Leute brachte. Alle wussten es und keiner von ihnen rührte auch nur einen Finger um ihnen zu helfen. Antoni blickte erneut auf die Menge und plötzlich durchzuckte es ihn wie einen Blitz. Da stand sie, ganz am Ende der kurzen Schlange, die noch in den Zug stieg. Antoni sprang auf. Er stürmte auf den Zug zu ohne zu wissen was er tat. Nur sein Blick war auf das zarte Gesicht fixiert, das er so sehr liebte. Er stieß einen Wachmann aus dem Weg, und noch einen, und noch einen. Die Nazis konnten nicht schnell genug reagieren so überrascht waren sie von dem plötzlichen Angreifer. Antoni streckte die Hand aus, als er noch ein paar Meter von Anastazja entfernt war. Er schrie laut ihren Namen und ihr Kopf schnellte herum. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck als sie ihn erblickte, doch sie begriff sofort und streckte ebenfalls ihre Hand aus. Antoni berührte sie und für einen winzigen Augenblick blieb die Zeit stehen. Er fühlte ihre kühle Hand in der Seinen und er sah in ihre großen dunklen Augen, sie waren so wunderschön. Doch dann spürte er plötzlich, wie jemand ihm mit voller Wucht in die Magengrube schlug. Er stieß vor Schmerz einen quälenden Schrei aus und sackte zu Boden. Dann war alles schwarz.
Antoni fuhr keuchend aus dem Schlaf. Er zitterte, sein Mund war ausgetrocknet und sein ganzer Körper war in kaltem Schweiß gebadet. Wie immer, wenn er diesen Traum durchlebte, dauerte es eine Weile, bis er wieder zu sich kam. Draußen war es noch dunkel. Er drehte sich auf die Seite und versuchte seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Mehrmals musste er, um sich zu beruhigen, in seinem Kopf wiederholen: "Das war nur ein Traum einer alten Erinnerung. Es war nur ein Traum,
".
Warum ihn gerade diese Erinnerung so quälte konnte er sich selbst nicht beantworten. Eigentlich hatte das wahre Grauen erst hinter den Mauern des Arbeitslagers begonnen. Vielleicht verfolgte ihn dieses Erlebnis deshalb so stark, weil er an diesem Abend Anastazja zum letzten Mal gesehen hatte. Anastazja
Wie sehr er den Klang dieses Wortes mochte. Das tiefe Loch das sie hinterlassen hatte, würde niemand auf dieser Welt je füllen können. Antoni hatte beschlossen über das Geschehen am Bahnhof in Witoslaw für immer zu schweigen, denn wenn dies die letzte Erinnerung an den wunderbarsten Menschen, den er jemals kennengelernt hatte, sein sollte, dann sollte sie nur ihm gehören. Ihm allein. Andere Leute würden vielleicht sagen, dass es ein heldenhafter, mutiger Versuch war, Anastazja zu befreien, aber er wusste es ganz genau: Es war nicht Mut gewesen, der ihn zu diesem sinnlosen Rettungsversuch veranlasst hatte, sondern Liebe und nichts Anderes. An manchen Tagen, wenn er besonders viel an sie dachte, erwartete er beinahe, dass gleich die Tür aufging und Anastazja ihm, mit ihrem herzlichen Lachen, um den Hals fiel. Den Hoffnungsschimmer, dass sie noch lebte, hatte er lange Zeit wie einen hell leuchtenden Talisman mit sich herumgetragen und auch jetzt konnte er den Gedanken an ihren Tod noch nicht zulassen.
Antoni drehte sich erneut auf den Rücken und blickte zum Fenster hinüber. Plötzlich zuckte ein unwillkürliches Lächeln über sein Gesicht. Ihm war gerade etwas eingefallen. Vor Jahren hatte ihm Anastazja eine Zeit lang jeden Abend ihre Lieblingsstelle aus einem ihrer Bücher vorgelesen und Antoni hatte das Gefühl, dass nichts diesen trägen und dann wieder hoffnungsvollen Zustand, in dem er sich jetzt befand, so gut beschrieb wie diese Textstelle:
"Wir glauben an das helle Licht, an die wundervolle Zukunft, die vor uns Jahr für Jahr zurückweicht. Damals entwischte sie uns, aber was macht das schon? Morgen laufen wir weiter, strecken die Arme weiter aus und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit"
Mit einem leisen Lächeln zog er sich die Decke über den Kopf und versank, ein wenig beruhigter, erneut in den Schlaf.
Verena Hauser
Hand
Von hier aus sehe ich direkt auf dein Grab.
Es ist mit Schnee bedeckt. Wobei gerade alles mit Schnee bedeckt ist. Ich habe das Gefühl, dass er mein Herz von allen Seiten eindrückt wie ein Schneeball bereit für die Schlacht.
Es bist nicht du, die mich gerade am Meisten verwirrt und das ist das Problem, denn ich bräuchte dich zum Entwirren.
Doch sind meine Finger nicht stark genug um nach dir zu suchen, nicht in dieser leeren Tiefe.
Und wie sehr ich versuche, alles ohne dich zu schaffen, löst sich dieser Ball nicht auf, sondern vergrößert sich mit jeder meiner Entscheidungen.
Ich drehe mich wieder um und schließe das Fenster von dem aus ich auf dein Grab schaue.
Der braune Holzboden auf dem ich zurück in das Zimmer gehe, macht das gleiche Geräusch wie der Boden im Zimmer des Krankenhauses.
Ich setze mich auf den Holzboden, versuche mich an Gerüche, Berührungen, gesagte Sätze, Farben, Stimmungen zu erinnern.
Ich kann mich an alles erinnern- als wäre es gestern passiert.
Jeder Tag nach deinem Tod war wie ein monotoner Arbeitstag von afrikanischen Sklaven, ich wartete jeden Tag auf einen Leedsänger, der kommt um mir einen Worksong zu basteln, der mir dabei hilft, mit der Monotonie jedes einzelnen Tages klarzukommen.
Es ist unglaublich schwierig zu begreifen
..greifen.
Ich stelle mir immer vor, dass zwei Hände mein Leben halten, mich tragen, egal was kommt, und mich nicht fallen lassen.
Du warst die Eine, meine Mutter die andere. Ich habe eine Hand verloren und wusste nicht mehr wie ich mich an der anderen alleine halten sollte.
Mittlerweile habe ich begriffen, dass ich mir die Hand selbst reichen muss, um durch das Leben zu kommen, sie in mir selbst aufbauen und sie nicht von jemand anderem abhängig zu machen.
Rana Donat
Weitere Artikel:
50 Jahre Technisch-Naturwissenschaftliche Fakultät an der Johannes Kepler Universität Linz
mehr...
VWA von Leonie Pum zum Thema "Transsexualität bei Jugendlichen in Österreich" prämiert.
mehr...
Schnuppe seufzte. So oft wurde ihr schon von ihrer Entstehungsgeschichte und auch von ihren zukünftigen Aufgaben erzählt. Anfangs hatte sie noch begeistert zugehört, doch nun kannte sie die Geschichten in- und auswendig. Sie fing an sie immer weniger zu mögen.
Denn sie mochte es nicht, dass ihre Zukunft nicht in den Sternen geschrieben stand, sondern scheinbar in Stein gemeißelt war. Ihr Licht flackerte und dimmte sich, die Angst vor der Zukunft schon fast greifbar. "Wieso fühle ich mich nicht schwerelos, wenn mich doch ein ganzer Kosmos umgibt?", fragte sich Schnuppe. Erst neulich begann Schnuppe´s Mutter wieder über den blauen Planeten zu reden und wie die Sternschnuppen diesen friedlicher machten. Dies taten sie, indem sie die Wünsche der Menschen erfüllten. Bald war das auch ihre Aufgabe. Aber Schnuppe wollte nicht die Träume eines anderen verwirklichen, wenn sie dafür ihre eigenen aufgeben musste. Sie wollte das ganze Universum erkunden und nicht nur ständig Geschichten über den blauen Planeten hören. Doch sie hatte bisher nicht den Mut dazu diese Gedanken auszusprechen.
Enthusiastisch wendete sich ihre Mutter an sie: "Bald wirst auch du ein treuer Diener der Erde sein. Ich kann es nicht fassen, meine kleine Schnuppe erlebt morgen ihren Tag des Schweifes!" Jener Tag, an dem Schnuppe zu einer Sternschnuppe heranreifen würde. Nun war es so weit und abgesehen von ihr schien sich jeder zu freuen. Eine Schnuppe nach der anderen wurde mit Goldstaub versehen, mit dem sie die Wünsche der Menschen erfüllten.
Der Schnuppenoberhaupt, der den Goldstaub verlieh, staunte nicht schlecht als er Schnuppe
sah. "Warum so ein gedimmtes Licht zur frühen Morgenstund´?", fragte er. Daraufhin fing Schnuppe wieder an hell zu leuchten. Dennoch flackerte ihr Licht hin und wieder- so nervös war sie. "Kaum zu glauben. Du, die Schnuppe des Lux." , sagte er spöttisch. Lux, so lautete der Spitzname ihres Vaters. Er wurde so genannt, weil niemand so viel Licht in der Menschenwelt hinterlassen hatte wie er. Aus diesem Grund hatten alle so hohe Erwartungen an Schnuppe und genau aus diesem Grund wäre sie jetzt am liebsten von einem schwarzen Loch verschluckt worden. Sie wusste von Anfang an, dass sie nicht zu einer Sternschnuppe werden wollte. Deshalb fasste sie noch gerade rechtzeitig den Mut, um zurückzuweichen, als der Schnuppenoberhaupt sie mit Goldstaub versehen wollte. "Ich will keine Sternschnuppe sein!", sagte Schnuppe nun bestimmt. Denn als Sternschnuppe verpflichtete sie sich den Menschen und Schnuppe wollte sich niemanden verpflichten. Sie wollte frei sein und ihre eigenen Wünsche erfüllen. Um sie herum wurde es still. Schockierte Blicke trafen sie. Auch ihre Eltern sahen sie enttäuscht an. Das machte Schnuppe zwar traurig, doch sie wusste, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste.
Firdos Jangulbaewa, 7n
Der Schrei
Eine Geschichte über Mut & Selbstliebe
Ein kalter Luftzug strömt durch das leicht geöffnete Fenster meines Zimmers, und ich schaudere kurz. Ich lege den Stift zur Seite und entschließe mich dazu, aufzustehen, meine Finger umfassen den kalten Griff, als ich das Fenster schließe. Besser. Ich fühle einen kleinen Funken Erleichterung, bevor wieder die gewohnte Gleichgültigkeit einsetzt, als ich mich wieder auf den grauen Stoff meines Schreibtischstuhls setze. Seufzend starre ich auf das aufgeschlagene Buch vor mir, versuche, irgendwie die richtigen Worte zu finden, um durch das Schreiben Ordnung in meine Gedanken bringen zu können, wie ich es schon so oft gemacht hatte, doch: Nichts. Nicht eine einzige Idee bekomme ich zu fassen, kein Wunder, denn ich weiß nicht einmal genau, was ich fühle. Der Stift, der schon so oft mein Retter gewesen ist, der mich alle Dinge sagen lassen kann, die ich denke, ohne sie zu sagen, liegt noch immer neben dem Papier, scharf gespitzt, bereit zum Einsatz. Wie gerne ich ihn jetzt in die Hand nehmen würde, seine Spitze auf das Papier setzen und schreiben würde, so lange, bis ich endlich fühlen könnte, wie die Last meiner Gefühle von meinen Schultern abfällt. Nur, welche Gefühle genau? Sie zu beschreiben, kann doch nicht so schwer sein, ich muss es doch irgendwie schaffen können. Reiß dich doch zusammen, ermahne ich mich, es kann doch nicht so schwer sein, so schwer sein, so schwer
Langsam schleicht sich Frustration in meine Gedanken ein und ich lasse meinen Kopf, begleitet von einem lauten Seufzer, in meine Hände sinken. Hm, immerhin weiß ich jetzt zumindest einen Teil von dem, was ich fühle. Angestrengt denke ich nach, doch es ist, als würde ich außer dem langsam nahenden Frust überhaupt nichts spüren, als hätten mich alle meine Emotionen verlassen, als wäre in meinem Kopf bloß erdrückende Stille, ähnlich erdrückend wie die Stille in diesem Raum. Hätte ich doch bloß den Mut dazu, meine Gedanken statt diesem leblosen Stück Papier auch einmal jemand echtem anzuvertrauen, ganz offen und ehrlich, ohne Angst zu haben. Angst. Bei diesem Stichwort muss ich kurz grinsen. Oh ja, ich habe Angst. Genau deshalb sitze ich auch hier, in diesem stillen Raum, kein einziges Wort verlässt meine Lippen, und doch könnte ich so viel erzählen. Mein Blick wandert von meiner silbern glänzenden Schreibtischlampe, die grelles Licht abgibt, über den Stift zu meiner Rechten zu den leeren weißen Seiten auf dem kahlen weißen Schreibtisch. Ich fühle mich nicht wohl hier, und doch muss ich hier sein - es ist auch mitten in der Nacht, wo sollte ich auch anders hinkönnen. Erneut starre ich auf das Papier, dieses Mal spüre ich die Enttäuschung umso mehr. Eigentlich ist es erbärmlich. Plötzlich blitzt eine Erinnerung in meinen Gedanken auf, ein Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Es sieht mich verächtlich grinsend an: "Du bist so erbärmlich". Dann ein weiteres Gesicht: "Was ist falsch mit dir?" und noch eines: "Lass uns doch endlich in Ruhe! Keiner mag dich." Je mehr ich versuche, diese Gedanken, diese Gesichter zu verdrängen, desto größer wird ihre Anzahl und desto lauter werden ihre Stimmen, sie schreien schon beinahe, füllen meinen Kopf mit Selbsthass. Bald schon höre ich meine eigene Stimme unter all den Rufen, unter all den Beleidigungen, und auch ohne zu schreien sticht sie deutlich hervor: Sie haben Recht. Ich bin erbärmlich. Ein Nichts. Ich sollte einfach
Halt, warte. Das ist nicht wahr. Beruhig dich, sage ich zu mir selbst, es gibt keinen Grund, so zu denken. Ich versuche, kurz durchzuatmen, mich an alles Positive zu erinnern, doch da sind die Stimmen wieder, mit ihrem schrecklichen Gerede. Plötzlich fröstle ich wieder, obwohl das Fenster schon lange wieder geschlossen ist und die Heizung vor meinen Beinen unbeschwert Wärme ausstrahlt. Ich fühle mich eingeengt, die Wände scheinen schrecklich nahe, der blanke weiße Schreibtisch wirkt nur noch abstoßend, das ursprünglich helle Licht der Schreibtischlampe scheint immer schwächer zu werden und mich langsam, aber sicher in Dunkelheit zu hüllen. Verzweifelt versuche ich, die Stimmen auf lautlos zu stellen, ihr Schreien zu ignorieren, sie aus meinen Gedanken zu verdrängen. Doch es ist sinnlos. Sie werden lauter und lauter, meine Versuche, mich zu wehren, gehen in ihrem Geschrei unter. In diesem einen Moment bricht meine Fassade endgültig zusammen, ich bin ihnen schutzlos ausgeliefert. Ich fühle einen stechenden Schmerz, er trifft mich mitten ins Herz und dann in meinen Magen. "Erbärmlich", "Nervig", "Jämmerlich" nennen sie mich, nenne ich mich. Ich merke schon gar nicht mehr, wie die Tränen über mein Gesicht laufen, wie sie auf das Papier tropfen und die Seiten langsam durchnässen. Zitternd hole ich Luft, versuche noch ein letztes Mal, mich zu beruhigen, nur um im nächsten Moment von einer noch größeren Gefühlswelle getroffen zu werden, die mich erneut verzweifelt nach Luft ringen lässt. Widerstand ist zwecklos, das Chaos in meinem Kopf nimmt kein Ende, denn sobald ich versuche, dagegen vorzugehen, reißt es mich wieder zu Boden, immer und immer wieder, als würde ich in einem Tsunami an Selbstmitleid ertrinken. Erbärmlich. Jämmerlich. Meine Wut gegen mich selbst wächst und wächst, ich will nur noch schreien, doch ich kann nicht. Ich will alles einfach herauslassen, meine Gedanken so lange in die Welt hinausschreien, bis sie sich endlich verflüchtigt haben. Ich will nicht mehr hier sitzen, ängstlich und voller Selbsthass, und meine
Gefühle in ein verdammtes Buch schreiben, anstatt sie so auszusprechen, wie sie sind, klar und deutlich und laut, so unendlich laut - und vor allem will ich diese Stimmen loswerden, ich will, dass sie mich in Ruhe lassen. Mit geballten Fäusten schlage ich auf den Tisch, der Stift rollt zu Boden, doch ich hebe ihn nicht auf. Ich konzentriere mich bloß auf den Kampf gegen die Gesichter. Sie haben mich schon oft genug verletzt. Ich habe genug davon. Es muss ein Ende haben. Jetzt. Und auf einen Schlag hören sie auf zu schreien. Die Stille kehrt zurück, doch diesmal hat sie etwas Beruhigendes an sich. Mein Kopf dröhnt noch, doch das Chaos meiner Gedanken scheint sich endlich entspannt zu haben. Mit dem Ärmel meines Pullovers wische ich mir die letzten Tränen aus dem Gesicht, realisiere langsam, dass es nun zu Ende ist. Ich atme erleichtert durch, plötzlich scheint mir alles, worüber ich mir gerade noch so sehr den Kopf zerbrochen habe, völlig unbedeutend, denn ich weiß: Ich bin stärker, lauter, größer als diese Stimmen. Ich bin viel mehr, als sie mir weismachen wollen. Mein Zimmer scheint wieder viel heller, viel freundlicher. Mein Blick wandert zur Türe, und ich weiß, was noch zu tun ist. Ich stehe auf, doch bevor ich die Türklinke nach unten drücke, drehe ich mich noch einmal um, hebe den Stift vom Boden auf und schreibe rasch etwas in das leere Buch hinein. Dann verlasse ich das Zimmer. Auf dem Gang streift mein Blick einen Spiegel an der Wand, ein blasses Gesicht mit verweinten Augen lächelt mir entgegen. Ohne eine Jacke zu nehmen, trete ich aus der Wohnung und laufe das Treppenhaus hinunter, bis mich schließlich die eiskalte Nachtluft umgibt. Erst als ich sie einatme, fällt mir auf, wie stickig es in meinem Zimmer eigentlich war. Ich hole tief Luft, spüre, wie die Kälte in meine Lungen strömt. In der nächsten Sekunde durchdringt ein lauter Schrei die Nacht und hallt von den Wänden der umliegenden Häuser wider. Es sind die drei Worte, die in dem aufgeschlagenen Buch auf meinem Schreibtisch zu lesen sind, in Großbuchstaben und über die ganze Seite verteilt:
I C H L I E B E M I C H.
Antoni Kowalski
"Seit wann ist er hier?"
"Er ist vor ein paar Tagen angekommen, Mam."
"Hat er irgendetwas gesagt seitdem?"
"Nein Mam, gar nichts. Er liegt jeden Tag stundenlang völlig reglos da und starrt auf die Decke."
Die Krankenschwester öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte in das Zimmer. Einen Moment lang sah es so aus als wollte sie hineingehen, doch dann seufzte sie nur und schloss leise die Tür. "Es hat keinen Sinn hier noch länger herumzustehen, Marta. Geh hinunter zum Zimmer 12 und wechsle Pawels Verband. Aber wirf den Alten nicht weg, sondern bring ihn in die Wäscherei."
Das Mädchen nickte und eilte den schwach beleuchteten Flur davon. Die Krankenschwester zögerte noch einen Moment, doch dann ging sie ebenfalls.
Antoni Kowalski hielt den Atem an. Als die letzten Schritte verklungen waren, atmete er erleichtert aus. Er blinzelte und ließ seine Augen durch den Raum wandern. Sie brannten höllisch vom stundenlangen Starren und es dauerte eine Weile bis sich sein Blick geklärt hatte. Das Zimmer war nicht gerade schön, aber es war sehr sauber. Die weiße Tapete, die bereits an einigen Stellen abbröckelte, und das graue Metallbett wirkten abweisend und kühl. Doch im Vergleich zu der Unterkunft in der er die letzten Monate verbracht hatte, strahlte dieses Zimmer puren Luxus aus. Antoni fühlte sich unheimlich erschöpft und konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten und doch wagte er es nicht sie zu schließen. Er würde es nicht ertragen all diese Bilder noch einmal zu sehen, all diese Momente noch einmal zu durchleben. Ist es nicht eigenartig, dass die Erinnerungen, die wir am meisten versuchen zu verdrängen, uns am klarsten bleiben? Wie sollten die Wunden jemals verheilen, die diese schreckliche Zeit hinterlassen hatte? Antoni blinzelte. Er schaffte es nicht länger gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Sein Blick verschwamm, sein Atem wurde gleichmäßiger und er glitt in einen unruhigen Schlaf.
Er war sofort wieder da. Dieser Traum, der ihn jede Nacht quälte. Es war wie ein Film in seinem Kopf, der nur darauf gewartet hatte abgespielt zu werden und ihn in die Zeit zurückholte, die er am liebsten für immer vergessen würde.
Antoni atmete eisige Winterluft ein. Die Kälte stach in seinen Lungen doch er musste weiterlaufen, er musste den Bahnhof erreichen bevor es zu spät war. Die Nazis hatten heute Nacht sein Haus heimgesucht und seine Frau verschleppt. Antoni hatte gewusst, dass sie ihn und Anastazja eines Tages ausfindig machen würden, denn fast jeder in Witoslaw wusste, dass sie Jüdin war. Für ein paar Laib Brot oder einen Sack Kartoffeln verrieten die Leute sogar ihre engsten Freunde und Familienmitglieder, so hoch war die Not in Polen. Antoni schmerzte seine Brust so sehr, dass er dachte er müsste sich übergeben, doch er rannte weiter. Da sah er plötzlich einen gleißenden Lichtstrahl durch die Dunkelheit blitzen und ein gellender Pfiff schallte durch die Nacht. Stimmen riefen verzweifelt durcheinander, Hunde bellten und man konnte Kinder weinen hören. Als Antoni näherkam, konnte er die schemenhaften Umrisse einer riesigen Menschenmasse erkennen, die auf dem hell beleuchteten Bahnhofsplatz stand. Eine schwarz aufragende Dampflock hüllte die verängstigte Menge in dichten Nebel wodurch der Anblick umso beunruhigender wurde. Antoni blieb stehen und blickte völlig außer Atem auf dieses Schauspiel hinab. Panik stieg in ihm hoch. Wie, um alles in der Welt, sollte er Anastazja in diesem Getümmel ausfindig machen? Und selbst wenn er sie finden würde, was dann? SS-Männer hatten die Menge umzingelt und hielten sie mit ihren knurrenden Hunden und gelegentlichen Schlägen und Fußtritten eng beisammen. Antoni schlich noch näher heran und versteckte sich im Schatten des Bahnhofgebäudes. Er stand mit dem Rücken flach an die Wand gepresst und schloss für einen Moment die Augen. Eigentlich glaubte er nicht an einen Gott. Als kleiner Junge hatte er, wie alle anderen, jeden Sonntag den Gottesdienst besucht. Doch die Gebete die er dort in der Kirche ausgesprochen hatte wurden nie erhört. Antoni öffnete seine Augen wieder, blickte hoch in den sternenübersäten Himmel und er flüsterte kaum hörbar: "Wenn es dich wirklich gibt, hilf mir!" Er hielt den Atem an, aber nichts geschah. Da gellte erneut ein schriller Pfiff durch die Nacht und die Türen der Wagons wurden krachend und quietschend geöffnet. Die Menge schrie entsetzt auf, als die Nazis begannen die ersten Leute der Reihe nach in den Zug zu zwängen. Im grellen Licht der Laternen erkannte Antoni einige bekannte Gesichter, wie zum Beispiel den Bäcker von dem er jeden Montag frisches Brot geholt hatte, oder die schrullige alte Dame, die zwei Häuser weiter in seiner Straße wohnte. Von Anastazja jedoch, war keine Spur. Die Menschenmenge wurde immer kleiner. Jetzt standen vielleicht noch zwanzig oder dreißig Leute auf dem Platz. Antonie sank auf die Knie. Tränen liefen über sein Gesicht. Wie war das alles nur möglich? Wie konnte der Mensch so viel Grausamkeit in sich tragen? All diese Soldaten wussten wohin der Zug die Leute brachte. Alle wussten es und keiner von ihnen rührte auch nur einen Finger um ihnen zu helfen. Antoni blickte erneut auf die Menge und plötzlich durchzuckte es ihn wie einen Blitz. Da stand sie, ganz am Ende der kurzen Schlange, die noch in den Zug stieg. Antoni sprang auf. Er stürmte auf den Zug zu ohne zu wissen was er tat. Nur sein Blick war auf das zarte Gesicht fixiert, das er so sehr liebte. Er stieß einen Wachmann aus dem Weg, und noch einen, und noch einen. Die Nazis konnten nicht schnell genug reagieren so überrascht waren sie von dem plötzlichen Angreifer. Antoni streckte die Hand aus, als er noch ein paar Meter von Anastazja entfernt war. Er schrie laut ihren Namen und ihr Kopf schnellte herum. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck als sie ihn erblickte, doch sie begriff sofort und streckte ebenfalls ihre Hand aus. Antoni berührte sie und für einen winzigen Augenblick blieb die Zeit stehen. Er fühlte ihre kühle Hand in der Seinen und er sah in ihre großen dunklen Augen, sie waren so wunderschön. Doch dann spürte er plötzlich, wie jemand ihm mit voller Wucht in die Magengrube schlug. Er stieß vor Schmerz einen quälenden Schrei aus und sackte zu Boden. Dann war alles schwarz.
Antoni fuhr keuchend aus dem Schlaf. Er zitterte, sein Mund war ausgetrocknet und sein ganzer Körper war in kaltem Schweiß gebadet. Wie immer, wenn er diesen Traum durchlebte, dauerte es eine Weile, bis er wieder zu sich kam. Draußen war es noch dunkel. Er drehte sich auf die Seite und versuchte seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Mehrmals musste er, um sich zu beruhigen, in seinem Kopf wiederholen: "Das war nur ein Traum einer alten Erinnerung. Es war nur ein Traum,
".
Warum ihn gerade diese Erinnerung so quälte konnte er sich selbst nicht beantworten. Eigentlich hatte das wahre Grauen erst hinter den Mauern des Arbeitslagers begonnen. Vielleicht verfolgte ihn dieses Erlebnis deshalb so stark, weil er an diesem Abend Anastazja zum letzten Mal gesehen hatte. Anastazja
Wie sehr er den Klang dieses Wortes mochte. Das tiefe Loch das sie hinterlassen hatte, würde niemand auf dieser Welt je füllen können. Antoni hatte beschlossen über das Geschehen am Bahnhof in Witoslaw für immer zu schweigen, denn wenn dies die letzte Erinnerung an den wunderbarsten Menschen, den er jemals kennengelernt hatte, sein sollte, dann sollte sie nur ihm gehören. Ihm allein. Andere Leute würden vielleicht sagen, dass es ein heldenhafter, mutiger Versuch war, Anastazja zu befreien, aber er wusste es ganz genau: Es war nicht Mut gewesen, der ihn zu diesem sinnlosen Rettungsversuch veranlasst hatte, sondern Liebe und nichts Anderes. An manchen Tagen, wenn er besonders viel an sie dachte, erwartete er beinahe, dass gleich die Tür aufging und Anastazja ihm, mit ihrem herzlichen Lachen, um den Hals fiel. Den Hoffnungsschimmer, dass sie noch lebte, hatte er lange Zeit wie einen hell leuchtenden Talisman mit sich herumgetragen und auch jetzt konnte er den Gedanken an ihren Tod noch nicht zulassen.
Antoni drehte sich erneut auf den Rücken und blickte zum Fenster hinüber. Plötzlich zuckte ein unwillkürliches Lächeln über sein Gesicht. Ihm war gerade etwas eingefallen. Vor Jahren hatte ihm Anastazja eine Zeit lang jeden Abend ihre Lieblingsstelle aus einem ihrer Bücher vorgelesen und Antoni hatte das Gefühl, dass nichts diesen trägen und dann wieder hoffnungsvollen Zustand, in dem er sich jetzt befand, so gut beschrieb wie diese Textstelle:
"Wir glauben an das helle Licht, an die wundervolle Zukunft, die vor uns Jahr für Jahr zurückweicht. Damals entwischte sie uns, aber was macht das schon? Morgen laufen wir weiter, strecken die Arme weiter aus und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit"
Mit einem leisen Lächeln zog er sich die Decke über den Kopf und versank, ein wenig beruhigter, erneut in den Schlaf.
Verena Hauser
Hand
Von hier aus sehe ich direkt auf dein Grab.
Es ist mit Schnee bedeckt. Wobei gerade alles mit Schnee bedeckt ist. Ich habe das Gefühl, dass er mein Herz von allen Seiten eindrückt wie ein Schneeball bereit für die Schlacht.
Es bist nicht du, die mich gerade am Meisten verwirrt und das ist das Problem, denn ich bräuchte dich zum Entwirren.
Doch sind meine Finger nicht stark genug um nach dir zu suchen, nicht in dieser leeren Tiefe.
Und wie sehr ich versuche, alles ohne dich zu schaffen, löst sich dieser Ball nicht auf, sondern vergrößert sich mit jeder meiner Entscheidungen.
Ich drehe mich wieder um und schließe das Fenster von dem aus ich auf dein Grab schaue.
Der braune Holzboden auf dem ich zurück in das Zimmer gehe, macht das gleiche Geräusch wie der Boden im Zimmer des Krankenhauses.
Ich setze mich auf den Holzboden, versuche mich an Gerüche, Berührungen, gesagte Sätze, Farben, Stimmungen zu erinnern.
Ich kann mich an alles erinnern- als wäre es gestern passiert.
Jeder Tag nach deinem Tod war wie ein monotoner Arbeitstag von afrikanischen Sklaven, ich wartete jeden Tag auf einen Leedsänger, der kommt um mir einen Worksong zu basteln, der mir dabei hilft, mit der Monotonie jedes einzelnen Tages klarzukommen.
Es ist unglaublich schwierig zu begreifen
..greifen.
Ich stelle mir immer vor, dass zwei Hände mein Leben halten, mich tragen, egal was kommt, und mich nicht fallen lassen.
Du warst die Eine, meine Mutter die andere. Ich habe eine Hand verloren und wusste nicht mehr wie ich mich an der anderen alleine halten sollte.
Mittlerweile habe ich begriffen, dass ich mir die Hand selbst reichen muss, um durch das Leben zu kommen, sie in mir selbst aufbauen und sie nicht von jemand anderem abhängig zu machen.
Rana Donat